DISTANZLOS

"Denn 'distanzlos', der neue Soloabend von Thomas Lehmen, der früher bei Sashs Waltz und Mark Tomkins tanzte, ist eine große Wunschmaschine. Es geht um nie ausgeführte Ideen, um große Gefühle und kleine Experimente, um Hass, Verzweiflung und um den Spalt, der aufklafft zwischen Vorstellung und Ausführung. In welchem Moment ist der Künstler mit sich selbst identisch? Im Moment der reinen, noch nicht veräußerten Idee, im Moment ist der Ausführung, oder ist jeder Wunsch nach Identität schon in sich absurd? Ich hatte einen Traum, sagt Thomas Lehmen, ich war mein Vater und trug eine Wehrmachtsuniform und als ich aufwachte, hatte ich das Gefühl ein Mörder zu sein. Lehmen robbt mit einem gewaltigen Mikrofon im Mund über den Boden und erzeugt schreckliche Geräusche, als wäre Krieg. Er schippt mit einer imaginären Schaufel einen imaginären Sandhaufen von der einen Seite der Bühne auf die andere, weil er irgendwann einmal dachte, dass das eine wunderbare Kunstaktion sein könnte und erzählt herzzergreifend vom letzten großen Grubenunglück im Ruhrgebiet und von der heroischen Befreiung der verschütteten Kumpel. Wieder und wieder zieht Lehmen seine Zuschauer in den Bann - und düpiert sie im nächsten Moment. Der Wunsch nach mitfühlender Identifikation - mit dem Leiden der verschütteten Kumpel, dem schrecklichen Gestöhne ins Mikro - wird vorgeführt als dass, was es heute vor allem ist: Eine medial erzeugte Phantasie. Und doch können wir nicht davon lassen. Der Darsteller nicht und seine Zuschauer auch nicht. Am Ende steht Lehmen etwas verloren auf Bühne. Das Licht geht aus und der gute alte Verfremdungseffekt schlägt Salto."
Michael Schlagenwerth (Berliner Zeitung)


"Sein Stück handelt vielmehr von den Gründen, warum die Kunst nicht wie das Leben selbst funktioniert. Viele Stichworte drehen sich um die Paradoxien der Performance, die das Erlebnis und seine symbolische Auswertung zugleich will: "alles kommentieren", "dreimal unverhofft zusammenbrechen". Nur weniges führt Lehmen auf der Bühne aus, dann aber erschreckend intensiv."
Katrin Bettina Müller (die tageszeitung)


" Ohne bewegungsästhetischen Ballast kommt der Körper selbst zur Sprache. Im zeitgenössischen Tanz ist er sowieso nicht mehr Ort des Wahren und Schönen, sondern des Unmittelbaren, ohne ästhetische Überhöhung, allenfalls sinnlich verstärkt. Also: Wirkung ja, Willen nein. Darum auch der Hinweis aufs Tourette - Syndrom, jene Peinlichkeits- Krankheit, bei der der Patient unwillkürlich obszöne Wörter oder unmotivierte Schreie ausstoßen muss, begleitet vor heftigen Zuckungen. Soweit kommt es nicht an diesem Abend, dessen mögliches Thema auch lautete: " Den Nullpunkt zeigen, ohne der Nullpunkt zu sein." Treffender lässt sich das avancierte Tanzgeschehen derzeit kaum fassen. Schon lange ist es vom Indikativ zum Konjunktiv über gesprungen - es hätte getanzt werden müssen".
Franz Anton Cramer (Berliner Zeitung; 5.11.01)