PRESSESTIMMEN ZU:
Funktionen
Tanzkunst blickt aufs Land
"Postimees", 28.07.2004
von Tiit Tuumalu
Nicolas Philibert, einer der weltweit erfolgreichsten Dokumentarfilmer,
uns bekannt als Autor des Films "Etre et avoir", erklärte vor kurzem in
Pärnu, dass er nie einen Film über etwas, sondern immer mit etwas
gemacht habe.
Der Hauptunterschied: Beim ersten Vorgehen schließt man ein Thema ab,
beim zweiten öffnet man sich einem Thema. Bildlich gesprochen: während
die erste Vorgehensweise das Thema in einen Rahmen einschließt, so läßt
man sich in der zweiten vom Thema einschließen. Dementsprechend ist das
Resultat entweder Abbildung oder Poesie.
Zweifellos ist Philibert ein Dichter. Auch der deutsche Choreograph
Thomas Lehmen ist ein Dichter, aber anders - er ist ein Dichterdenker.
Obwohl er neugierig das Leben beobachtet und das Leben ihn bildet, löst
es nie seinen nüchternen Verstand auf. Hinter der scharfen und direkten
Vorstellung hat man immer eine Ahnung vom theoretischen Hintergrund,
warum und wofür.
Unbestimmt wie die Poesie, exakt wie die Mathematik, so ist Tanz von Thomas Lehmen.
Im Festival "Stuudiotants" am Samstag im Kulturhaus von Märjamaa konnten
wir sehen, wie man mit etwas Tanz machen kann. An diesem Abend wurde
nämlich Lehmens work-in-progress "Funktionen" präsentiert. Zur Zeit
arbeitet er an seiner neuen Arbeit mit estnischen (Krõõt Juurak, Mart
Kangro), deutschen, japanischen und spanischen Tanzkünstlern im Dorf
Kuusiku in der Nähe von Rapla.
Wie der Titel sagt, bilden die Grundlage von "Funktionen" die
verschiedenen Funktionen, die in dem Moment einsetzen, in dem eine
Person sich mit der Umgebung in Beziehung zu setzen beginnt. Wieviel
bleibt von uns selbst übrig, wieviel übernehmen wir von anderen? Solche
Dilemmata durchfließen die Körper der Tänzer und spiegeln persönliche
Erfahrungen jedes einzelnen.
Es ist erstaunlich, wie sehr Lehmen Dokumentarkünstler ist. Er schätzt
nicht so sehr die körperliche Potentialität des Tänzers als vielmehr
seine Persönlichkeit und die Kulturschichten, die durch die Zeit in
seinem Körper anlagert wurden. Es gibt in "Funktionen" keine besondere
Stilisierung, niemand tanzt hier Technik oder Kombinationen auf der
Bühne, die Aufführung formiert sich allein durch gewöhnliche, tägliche
Bewegungen, Rituale und Klischees, die dem Tänzer oder zum
Kollektiveigentum der Menschheit gehören.
Soetwas könnte langweilig werden. Wird es aber nicht. Die Übungen, die
auf der Bühne durchgeführt werden, sind originell und humorvoll. Der
alte Trick eine Sache aus seinem realen Kontext herauszunehmen und in
einen neuen zu setzen funktioniert tadellos. Und offenbar genießen auch
die Tänzer ihre Aufführung.
Aber am wichtigsten: "Funktionen" möchte uns nicht die eine Wahrheit
zuteil werden lassen. Es werden bestimmte Fragen gestellt, aber unsere
"Vorstellungsraster" werden nicht geschlossen. Uns wird die Freiheit
gegeben, die Fragen in der Art und Weise zu beantworten, wie wir sie
verstehen.
Hier greift der andere Aspekt ein. "Funktionen" hat viele Schichten:
seine Oberfläche unterhält, aber geht man tiefer ins Innere, so eröffnet
sich der philosophische Sinn. Jeder kann hier etwas finden, sogar die,
die sich mit der ersten Schicht begnügen.
"Funktionen" könnte eigentlich immer in diesem Prozess bleiben, im
unvollendeten Stadium, in dem das Suchen wichtiger als das Finden und
das Bilden wichtiger als das Resultat ist. Es könnte in kleinen
"Studios", wie dem in Märjamaa aufgeführt werden. Würde es nicht einen
Teil seiner Unmittelbarkeit verlieren, wenn der Prozess zu einem Produkt
aufpoliert wird?