Das Gespenst der Freiheit: Beobachtungen zu

Schreibstück

von Thomas Lehmen

Daß man Tanz aufgrund schriftlicher Quellen rezensieren könnte, ist bisher noch niemandem in den Sinn gekommen. Es scheint auch allzu abwegig, gilt doch die augen-blickliche Darbietung von Bewegung in Raum und Zeit als eines der Hauptkennzeichen des Genres. Allenfalls im Wissenschaftsmilieu gab es Beschäftigung mit Tanz und Schrittnotationen, um daraus historische Zuordnungen und bisweilen auch ästhetische Werturteile abzuleiten. Andererseits ist in den vergangenen Jahren im Bereich des zeitgenössischen Tanzes kaum eine Frage (von der Körperdebatte einmal abgesehen) so intensiv behandelt worden wie die nach Autorschaft Werkcharakter einer Choreographie.

In diesem weiten Problem-Feld hat Thomas Lehmen mit "Schreibstück" (uraufgeführt in einer ersten Version im August 2002 im Rahmen des Festivals "Tanz im August" im Berliner Podewil) eine markante Position bezogen. Denn in diesem Projekt steht überhaupt nicht mehr die Bewegungsfindung (als Wahrheitsfindung oder als Ich-Bekundung) im Mittelpunkt, sondern nur noch die Themen sowie die zeitlichen Abläufe innerhalb und die Konvergenzen zwischen drei unabhängig voneinander entstehenden Choreographien. Sie sind zwar nach schriftlich niedergelegten Vorgaben " nach einer Partitur " zu entwickeln und aufzuführen. Die Bewegungen selbst, die eigentliche, die körperliche Verwirklichung dagegen sind ganz in das individuelle Verhältnis von Choreograph und Tänzern überantwortet; der Autor hat darauf keinen Einfluß mehr.

Damit sind zentrale Fragen aufgegriffen (oder vielmehr: aufgeschrieben), die gegenwärtig im Tanzdenken und in der Reflexion über Choreographie auf der Tagesordnung stehen: Autorschaft, Wiederholbarkeit, Wahrheitsbehauptung, Individualität, Bühnensituation/Verhältnis zwischen Zuschauer und Bühnengeschehen (also Wahrnehmungsfragen). Auch die Schriftlichkeit im Gegensatz zum "Unmittelbaren" sowie das Verhältnis zwischen dem Sukzessiven und dem Simultanen sind thematisiert.

Diese übrigens auch juristisch (wer hat woran welche Urheberrechte: der Autor am Buch, der Choreograph an der Umsetzung, der Tänzer an seiner Leistung?) und organistorisch (wer ist Produzent der Einzelversionen? Wer zahlt wem wieviel und wofür?) komplexe Gesamtanlage betont zugleich die Unterschiede der beteiligten Teams hinsichtlich der kulturellen Einbindung, der Biographie, der ästhetischen Orientierungsmuster, des Vorwissens beim Publikum und dergleichen mehr.
Bereits die Uraufführung zeigte frappante Differenzen in der tänzerischen Selbstdarstellung aus Estland, Deutschland und Portugal. So spannte sich die Auffassungsbreite zum Thema "Liebesgeschichte" zwischen einer Art tänzerischem Bänkelgesang frei nach Shakespeares "Romeo und Julia" und einem grotesken Hüpfspiel bizarrer Phantasiewesen aus. Aber es gab auch übereinstimmende Lösungen. Sie waren naheliegend bei der Aufgabe "Ficken" oder "Arbeiten". Dass die Nichtdarstellung von Inhalten, etwa in "Denken" (wo die Mitteilung eines Inhaltes laut Partitur strikt verboten ist) oder in "Warten und Zuschauen" im reinen Vollzug wenig spektakuläre Angebote machen kann, ist ebenfalls einleuchtend und gehört zum Konzept. (Nur am Rande sei bemerkt, daß sich zur Aufgabenstellung "Gemeinsame Choreographie" die drei Gruppen auf "Pina Bausch" geeinigt hatten, jedoch eines der beteiligten Teams nicht über eigene Anschauungswerte verfügte und daraufhin eine aufschlußreiche Sequenz "à la manière de Bausch" zeigte; woraus zu schließen ist, daß das Primat tanztheaterlicher Dramaturige und Bewegungsfindung im Wuppertaler Stil nicht mehr unbedingt zum Weltkulturerbe des Tanzes gezählt werden kann " )

Die in "Schreibstück" vorgegebene Organisation von Bühnengeschehen (kanonhafter Ablauf, thematische Anordnung) und Einzelinterpretation eröffnet also, trotz aller Strenge, einen gewaltigen Raum der Freiheit. Er wird gerade im Simultanen deutlich " dann nämlich, wenn alle drei Versionen gleichzeitig ablaufen und bei bestimmten Stellen (und hier hat sich der Autor auch als Komponist mit geschickter Stimmführungs-Gabe betätigt) eine thematische Gleichzeitigkeit erreichen, die sich dann aber gerade nicht in synchroner Bewegung ausdrückt. (Dieses Zeichen autorschaftlicher Omnipotenz ist in der ideellen Choreographie zu "Schreibstück" definitiv getilgt.)

So vollzieht sich im simultanen (und das heißt hier vor allem auch: unübersichtlichen) Tanz-Geschehen eine Verschiebung, die Thomas Lehmen im Buch zum Stück " es enthält gleichsam das reflektorische Ausgangsmaterial des suchenden Choreographen " mit folgender Frage einleitet: "Welche Art von Gedankenräumen muß man schaffen, die nicht von Bedeutungsfixierung besetzt sind, sondern im Verstehen der Zeichen eine Erweiterung und Veränderung ermöglichen?" "Schreibstück" wäre ein solches Aufführungsmodell, das den gemeinsamen Kern, der jeder Form von Kommunikation innewohnt, bewahrt, ohne das volle Recht auf Eigenständigkeit der Entscheidung zu beschneiden. Ein Aufführungsmodell also, das sich auf allgemein zugängliche Zeichen stützt und trotzdem den Eigen-Willen beläßt. Jeder darf sagen " oder tanzen ", was und wie er möchte. Nur an die Grund-Regeln muß er sich halten. Das "System" zur Erzeugung von Formen und Inhalten bleibt aber durchlässig.

In "Schreibstück" ist somit eine völlig neue Draufsicht auf den kreativen und darstellerischen Prozeß gegeben. Er liefert Ideen, welche erst im Verständnis bei und in der Ansicht durch andere "schöpfende Individuen" ihre Realisierung, ihre "Echtheit" finden. Ich habe diese Verschiebung eine grundstürzende Umkehrbewegung genannt, gleichsam den Marxschen Umsturz einer bis dahin ideal geglaubten, Hegelschen Weltordnung des Tanzes.
Denn es steht jetzt die Bewegung nicht mehr im Mittelpunkt und auch nicht mehr die einzelne Ausführung. Sondern nur noch die abstrakte Partitur bietet Orientierung. In ihr aber öffnen sich die prozeßhaften Räume der Ver-Wirklichung. Sie ermöglichen ein Verstehen in der Veränderung. Und zwar nur dort. Somit wäre im Projekt "Schreibstück" nicht nur das Motiv der Partitur als schriftlicher Spur eines abwesenden Autors und also dessen schöpferische Urfunktion‚ nochmals zerlegt. Sondern es ist auch die Kategorie des Werks mit ihrem Dogma des stilistischen Sinnganzen ausgehebelt.

Nicht, daß man also nichts verstehen könnte. Aber es gibt eben keinen metaphysischen Referenzpunkt mehr, kein choreographisches Transzendentalsignifikat (Gruß an Derrida). Die Umkehrung ist sozusagen doppelt gewendet: Was man sieht und was man sehen wird, ist ein Vorgang der immerwährenden Annäherung an eine Partitur und ihre Inhaltlichkeit, die jedoch ohne die Auseinandersetzung mit und durch Andere gar nicht wäre. Oder bloß ein Buch bliebe.
So ist "Schreibstück" vielleicht das derzeit einzige zeitgenössische Choreographieprojekt, welches sich aufgrund schriftlicher Quellen besprechen läßt. Denn es spricht für sich selbst. "Verstehen ist in erster Linie ein Zustand des Akzeptierens. Nicht nur des anderen, sondern das Akzpetieren, dass die eigenen geschaffenen Definitionen und Zeichen von etwas nicht notwendigerweise eine adäquate Entsprechung im Sinngefüge des anderen haben", schreibt Lehmen im Buch zu "Schreibstück". Das wäre gleichsam die Hohlform des kreativen wie des kommunikativen Prozesses. Doch verliert das Motto des Buches zum Stück dadurch nicht an Gültigkeit: "Ich bin ja Künstler, und da kann ich schreiben, was und wie ich will." So viel Freiheit muß sein. Auf beiden Seiten.

© Franz Anton Cramer

Der Wahrheit Raum bieten

Das Kollektiv als Autor: Das "Schreibstück", eine Partitur für Tanz und Theater von Thomas Lehmen, dem Berliner Choreografen und Performer, wird europaweit in immer neuen Versionen aufgeführt

von FRANZ ANTON CRAMER

Wie viel Wahrheit passt in eine Minute? Laut Jean-Luc Godard lässt sie sich mindestens 24-mal ablichten. Wie viel Wahrheit auf eine Tanzbühne passt, ist schon schwerer zu sagen. Der Choreograf Thomas Lehmen sucht eine Antwort darauf mit neuen Konzepten. Wenn über den Tanz im herkömmlichen Sinne gesagt werden kann, er sei "das Fiktive an der Körperbewegung" (Helmut Ploebst), dann geht es Lehmen um das genaue Gegenteil: den Augenblick der Wahrheit oder jedenfalls der Ehrlichkeit in der aufgeführten Bewegung zu suchen.

"Distanzlos" hieß 1999 ein Solo, das davon handelte, welche Materialien des Lebens als Material der Kunst in Betracht kommen. Anstatt aber eine solche Auswahl tatsächlich zu treffen, führte Lehmen seine Performance immer entlang der Grenze zwischen Künstlichkeit und Realität, zwischen dem Nachdenken über sich selbst und dem Vorführen von Ideen. Auch "mono subjects" (2001) fragte, wie man den Anforderungen der Bühne gerecht wird und trotz alledem nicht ins Spektakelhafte verfällt.

Aber die radikalste Antwort auf die Wahrheitsfrage im Tanz ist Lehmens "Schreibstück". Denn es ist zuerst einmal ein Buch. Darin wird ein Tanzstück festgeschrieben und erläutert, an dem Lehmen als Autor alle Rechte hält. Nicht aber als Choreograf. Der Inhalt nämlich wird von anderen realisiert. Jeweils ein Choreograf und drei Tänzer kaufen die Rechte und machen aus der Partitur ein Stück. Drei solcher Interpretationen werden dann an einem Abend aufgeführt, organisiert wie ein Kanon. Was jedes Team aus den schriftlichen Anweisungen macht, muss sich zwangsläufig gegen die beiden anderen Fassungen behaupten können.

So entsteht ein dauernder Fluss aus Einzelbildern, Spiegelungen und Zufällen. "Das wichtigste Element in "Schreibstück" ist die Zeit", ruft ein Tänzer im Utrechter Akademietheater und schwenkt seine Stoppuhr. "Ganz gleich, was wir machen, es darf nur eine Minute dauern!" Er ist gerade mit der Aufgabe "Stück erklären" befasst. Davor lautete das Thema "Ficken", später kommt etwa "Ich existiere" oder "Drei Gefühle". Insgesamt 39 solcher Themen gibt es, arrangiert in drei Abschnitten zu jeweils dreizehn Einheiten, die je eine Minute dauern. Was nach Kopflastigkeit klingt, ist inzwischen Grundlage für ein europaweit geknüpftes Netz aus Veranstaltern und Tänzern. Denn es ist ein Hauptanliegen von "Schreibstück", die Regeln für Verstehen und Kommunikation unter verschiedenen Künstlern zu erweitern. Internationalität versteht sich da gleichsam von selbst. Versionen sind bislang in Amsterdam, Lissabon, Berlin, Helsinki, Tallinn und Nottingham entstanden, Brüssel, Antwerpen, Gent und Valenciennes folgen demnächst.

Natürlich mangelt es nicht an Vorwürfen gegen ein solches Korsett für die "freie" Kunstform Tanz. Nach der Neufassung mit je einer Gruppe aus England, Holland und Estland, die im Rahmen des Utrechter "Springdance"-Festivals uraufgeführt wurde, erbosten sich manche über das Aufstellen der Regeln. Damit verhindere "Schreibstück" die lebendige Begegnung mit dem Publikum, das ganze Projekt verachte die Institution Theater. Dabei wurde geflissentlich übersehen, dass ein Großteil der Zuschauer den 3 mal 3 mal 39, also insgesamt 351 Wahrheitsmomenten ziemlich gut gelaunt folgte. "Schreibstück" macht nämlich Spaß, als konkurrierender Wettbewerb, Improvisation und Kunststück. Mögen die einzelnen Interpretationen bisweilen unleserlich sein: Sie erlauben immer sehr persönliche Gesten. Gerade der allgemeine Rahmen der Szenen lässt jede Ausführung zugleich zu einem Porträt werden. Beim niederländischen Team - choreografiert von Klaus Jürgens (Hans Hof Ensemble) - war sogar Klamauk dabei. Zum Thema "Arbeiten" schrieb man drei Pappdeckel mit der Zeile voll: "Die Internationale erkämpft das Menschenrecht" und sang anschließend, in der Abteilung "von weiterer Bedeutung", dazu: "Völker, hört die Signale". Natürlich nur eine Minute lang. So viel Systemtreue muss schon sein. Die Gruppe aus Nottingham hatte sich dagegen eher ans Tänzerische gehalten und eine Art schnörkellose Arbeiterfassung abgeliefert, während die drei estnischen Akteure fast alle Themen als Plattform für schnurriges Non-Acting verwendeten und sich auch mal (Thema Globalisierung!) zu Coca-Cola oder auch zum Nokia-Handy deklarierten.

Wem "Schreibstück" dennoch zu sehr nach Tanz riecht: An eine Schauspielfassung wird bereits ernsthaft gedacht. Und vielleicht gibt es ja bald auch eine gesungene Partitur. "Schreibstück", so hat sich in Utrecht wieder gezeigt, bietet in Wahrheit Raum für ebenso viele Freiheiten, wie man sich nur auszudenken wagt.

Thomas Lehmen hat seine Position als Choreograf damit nicht nur in die eines Autors verwandelt, sondern mehr noch in die eines Labels, das zu kollektivem Samplen einlädt. In der Wahrheit, die er sucht, ist Platz für viele. Das ist das Nette an seinen Konzepten.

26.4.2003 taz Kultur 175 Zeilen, FRANZ ANTON CRAMER S. 14
Rezension