PRESSESTIMMEN ZU:

STATIONEN

"Station 1, Berlin"

"Die Begegnung von Theater und Realität"
von Constanze Klementz
Berliner Morgenpost, 4.10.03

Der Berliner Choreograf Thomas Lehmen ist dem Realen auf den Fersen - im Theater. Dass das Sein auf der Bühne mit dem Dasein draußen nicht zusammen kommen kann, lässt er nicht gelten und beide in der ersten Erarbeitung von "Stationen", vor dem Hintergrund der Systemtheorie aufeinander los. Kommt man auf gleiche Augenhöhe, wenn das System Theater, auf seine Funktionalität reduziert, anderen sozialen Systemen begegnet?

Man trifft sich an einer Tafel: der Choreograf, der sein Projekt einführt. Die Realität, die er per Annonce auftrieb: Leute, die von ihren Tätigkeiten erzählen wie der Versicherungsmakler Knut, die Anwältin Tanja oder Gabriele, die Heilpädagogin. Tänzer, die vorerst nicht tanzen. Zuschauer, die aufgefordert sind, Nachfragen zu stellen oder von den Tänzern in Gespräche über Themen wie Zusammenleben oder die Kartoffel verwickelt werden.

Lehmens Recherche folgt einem bestechenden Konzept. Mit der Überlagerung von Authentizität und Repräsentation hat er gerechnet. Doch auch mit der Autorität des Theaters? Die Vertreter des "echten" Lebens verführt es zur Darstellung ihrer selbst, und als Selbstdarsteller werden sie präsenter als die Systeme, die sie verkörpern. Folge: Immer mehr Zuschauerfragen bohren ins Private. Die choreografische Sequenz im Zentrum von "Stationen" als Zusammensetzung einzelner Bewegungsmodule bleibt unkommentiert, der Tänzer als Interpret und Person unhinterfragt. Man nimmt den Tanz hin; man muss und kann ihn nicht durchschauen. So sät Lehmens Laboratorium nicht nur klug Verunsicherung, sondern auch manches Klischee. Umso glaubhafter ist es.

"Die Profis"
von Katrin Bettina Müller
taz, 4.10.03

Ausschneiden, kopieren. Seit es Computer gibt, sind diese Funktionen alltäglich geworden. Ein Stück aus der Realität ausschneiden und im Theater wieder auf die Bühne setzen: Das praktizieren Theatermacher, Performer und Musiker zwar auch schon seit zwei Generationen, alltäglich aber ist es dennoch nicht. Vielleicht, weil die Orte, an denen das geschieht, noch immer an der Peripherie der großen Kulturinstitutionen liegen. Vielleicht, weil der Hunger nach Alltag in den Medien oft so starre Formate erzeugt, dass denen zu entkommen inzwischen wieder zu einer eigenen Kunst geworden ist. Ganz sicher aber, weil sich der Kontext und die Motivationen ändern, mit denen der Realitätsausschnitt verschoben wird.

Thomas Lehmen, Performer, Tänzer und Choreograf, wählt jetzt zum Beispiel den Ansatz der Systemtheorie. In "Stationen", im Berliner Podewil uraufgeführt, sucht er nach dem produktiven Mehrwert der systemtheoretischen Erkenntnisse für künstlerische Produktionsweisen. Also denkt er sich Strukturen aus, um verschiedene Systeme zusammenzubringen und auf Berührungspunkte, Reaktionsformen und ihre inkompatiblen Elemente hin zu untersuchen. [...]

"Sind Sie traurig, gucken Sie zur Decke"
von Michaela Schlagenwerth
Berliner Zeitung, 10.10.03

Anfang des Jahres gab der Berliner Choreograf Thomas Lehmen eine Anzeige auf: Theaterproduktion sucht Menschen in Berufen aller Art". Mehrere hundert riefen an. Mit einigen haben sich Thomas Lehmen und sein Team getroffen. Man saß gemeinsam um einen Tisch, die Menschen erzählten von ihren Berufen, "und das", sagt Thomas Lehmen, "war eine spannende Aufführung".

Im Podewil haben sich letzte Woche zu der "Station I" Menschen in Berufen aller Art um einen großen Tisch versammelt. Es sind auch Tänzer anwesend, die später weniger tanzen als vielmehr Bewegungsabläufe aus dem Alltag probieren werden. Es gibt Leberwurst- und Käsebrote, und an der Seite wird an einer eigenen Tanzzeitschrift gebastelt, die man für 2,50 Euro erstehen kann. 40 Zuschauer sitzen mit um den Tisch. [...]

Am Ende sitzen die Menschen noch lange in kleinen Grüppchen. Er habe sehr nett mit Thomas Lehmen telefoniert, sagt der Pfarrer, und zwei Termine vereinbart. Man müsse nicht immer kommen, nur wenn man kann. Die Skepsis gegenüber den kommerziell orientierten Produktions- und Präsentationsformen auf dem Tanzmarkt bringe Choreografen auf die Suche nach anderen Arbeitsweisen, heißt es im ersten Aufsatz der eigenen Zeitschrift.

"Ein Setting für das Reale - Stationen von Thomas Lehmen"
von Sabine Huschka
Tanz Journal 6/03

Wir betreten einen Produktionssaal im ersten Stock des Berliner Podewil und befinden uns inmitten einer räumlich und funktionell disparaten Situation. Verschiedenartige Gegenstände und Ensembles säumen den Saal. In der einen Ecke steht eine Bar, an der wir Wasser und Schnittchen bestellen. Am gegenüberliegenden Ende des Raumes stehen mehrere Produktionspulte mit Laptop, Drucker, Papieren, Stiften, Kästen, Kabeln. Dahinter sitzen mehrere Leute. Es wird Zeit, Platz zu nehmen. Die Stühle stehen in unregelmäßiger Reihung um einen großen Tisch geschart in der Mitte des Saales. Auf dem Tisch liegen alte, zerlesene Zeitungen. Die Bühne im Produktionssaal, hinter den Arbeitspulten aufragend, klafft dunkel und leer.

Wir werden von Thomas Lehmen begrüßt und eingeführt in die selbstgenügsame Logik der bisherigen Produktion. Er selbst wüsste nicht, wie jene sich als Aufführung gestalten werde und aus welcher Position heraus wir - die Zuschauer - in das choreografische Geschehen eintreten. Die Idee wäre gewesen, den theatralen Raum gegenüber dem Realen nicht dergestalt zu verschließen, um seine Facetten allein fiktional anzuzeigen. Vielmehr solle qualitativ etwas aus ihnen für sich sprechen und als solches den kommunikativen Produktionsprozess Theater bilden. Mit dieser Fragestellung erweist sich Lehmen als choreografischer Denker und Tänzer, der das seiner eigenen Bewegungsarbeit geschuldete Wissen um den realen Konnex körperlicher Darstellungskunst zu aktivieren sucht.

Wie sehr dieses Wissen stets mit dem Imaginären umgeht, auch wenn es bemüht ist, den energetisch-theatralen Impetus tanzender und erzählender Körper im kühlen Bad tatsächlicher Bewegungsausführung und einer ‚narration concrète' einzutauchen, davon handelt "Stationen" ebenso wie von der Kunst des Choreografischen, eine unaufgeregte und unprätentiöse Auseinandersetzung mit anwesenden Körpern in der Situation Theater zu führen.

Zeitungsannoncen hatten zu Beginn der Produktion nach "Menschen aus Berufen aller Art" gesucht für eine Theaterarbeit, in der die jeweiligen Personen nicht ihre Berufe ausüben, sondern über sie reden sollten. Lehmens Choreografie suchte nicht nach Talenten für eine gute Tanz- oder Schauspielperformance, sondern schlicht nach Leuten, die anderen über ihren eigenen Beruf erzählen. Ihre Erzählungen, so betonte Lehmen, bildeten schon während der Probenphase die situative Grundkonstellation Theater, da alle Beteiligten (Menschen aus Berufen, Tänzer, Choreograf, Dramaturg, Fotografin u.a.) zusammen im Sinne von Akteuren und Publikum gearbeitet hätten. Was nun durch den Eintritt des Publikums geschehe, sei unsicher.

"Stationen" versteht sich demnach nicht als Stück, das zur Aufführung gelangt, sondern als öffentlicher Prozessverlauf, in dessen choreografisches Gerüst das Publikum als weitere Systemgruppe eintritt. Lehmen denkt ihre wahrnehmungsästhetische Haltung als Bestandteil bühnenästhetischer Arbeit, dessen Choreographie mittels der Zuschauerkörper die ästhetische Konstellation einer Aufführung erhält. Räumlich und dramaturgisch werden die Zuschauer in choreografische ambiguine Szenerien platziert, unentschieden in ihrem real-ästhetischen Charakter. Radikaler noch als in seinen früheren Arbeiten vernetzt Lehmen die Plätze, Orte und Rollen aller Beteiligten zu wechselnden Situationsanordnungen, deren Funktionen demonstrativ mit Realbezügen belegt sind. An der Bar bedienen zwei Menschen aus "Berufen aller Art", frühere Kneipiers, auf der Bühne tanzen ausgebildete Tänzer, am Gesprächstisch der ersten Szene sitzen der Choreograf und Dramaturg Sven-Thore Kramm und alle weiteren Akteure. Immer wieder im Laufe des Abends erhebt sich die Frage auf: Wo befinde ich mich eigentlich? Das Publikum wird ständig angehalten, die eigene Anwesenheit zu überprüfen.

Zu Beginn erzählen einzelne Personen über die situativen Besonderheiten ihres Berufsstandes: der Versicherungskaufmann Knut Ernst berichtet von den Vorzügen von NLP bei der Arbeit im Außendienst. Szenisch führt er uns die goldene körpersprachliche Regel für eine geglückte Kontaktaufnahme mit dem Kunden vor. Der Pförtner Arno Kölker gleitet im Erzählen seiner beruflichen Realität hinein ins Imaginäre. Geradezu emphatisch führt er uns seine jüngste Idee vor: den Blues des Pförtnerberufs. Und so singt er uns dessen Lied, erschafft tanzend und schauspielernd die "Pförtnerloge". Er wächst zu einer theatralen Figur heran und betritt den symbolischen Raum Theater, der bislang unserer Wahrnehmung verschlossen blieb. Mit Enthusiasmus wird damit jener faszinierende und schamfreie Repräsentationsraum Theater betreten, in dem man vorgeben kann, jemand anderer zu sein. Kurzzeitig blitzt all das auf, was Stationen ansonsten an den Rand drängt. Denn obwohl die Gesprächsrunde einer Talkrunde ähnelt, adaptiert sie nicht deren kommunikative Regeln von bekennender oder werbender Rede, von einfühlsamen oder provokanten Fragen. Wir Zuschauer wohnen der Runde in zweiter und dritter Reihe um den Tisch gescharrt bei, ohne eindeutige kommunikative Rolle. Dieses Unbestimmte, Freiwillige und Optionale spiegelt sich im Verhalten der Zuschauer: Manche hören die ganze Zeit aufmerksam zu, andere stehen zwischendurch auf, gehen zur Bar und trinken ihr Bier, manche beteiligen sich und stellen Zwischenfragen.

Die nachfolgende Szene platziert uns an einzelne im Raum verteilte Tische, deren Ensemble einer Varietéshow ähneln. An der Tafel schreiben in kreisrunder Anordnung die Worte "Raum - Bild - Beziehung - Qualität - Bewegung - " denjenigen Prozess vor, den die Tänzer im weiteren gestalterisch durchlaufen. Sie flüstern sich Anweisungen ins Ohr und folgen in ihren kurzen Bewegungssequenzen den Strukturvorgaben des choreografischen Systems. Bewegungsmotive werden im Raum, ihrem imaginativen Gestus, ihrer Qualität und in ihrer Beziehung zu anderen variiert, wobei die Anweisen selbst uneinsichtig bleiben. Einsichtig wird indessen das performative Moment choreografischer Arbeit, dessen Produkte wie willkürlich die Situation prägen. Später wechselt das Geschehen zu einzelnen Tischgesprächen, die phasenweise einzelne Themen zum Gegenstand haben. Sprecher sind diesesmal die Tänzer und sie erzählen den Zuschauern an den Tischen von Kartoffeln, Türgriffen, Plastiktüten, vom Zusammen-Sein, vom Wasser, der Migration, der Wäsche, von der Hygiene, der Mafia, der Familie. Wann dieser Abend zu Ende geht, bestimmt jeder für sich. Den ganzen Abend über ertönt kein Applaus, denn wer applaudiert sich schon selbst?